Inklusion - Was ist das denn nun?

01.01.70 –

Inklusion:

Was ist das denn? Nun - „Einschluss“; „alle, die es gibt, mit einschließen in das gesellschaftliche Leben“: Behinderte und ‚Normale‘, Benachteiligte und Privilegierte; besser und schlechter Ausgebildete.

Die Vereinten Nationen haben eine Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verabschiedet, die Inklusion als Menschenrecht deklariert; der Deutsche Bundestag hat diese Konvention im November 2008 ratifiziert, also in das Recht unseres Landes übernommen. Es geht nicht um sozialromantische Ideen nach dem Motto „Wir fühlen alle mal, dass wir etwas gemeinsam haben.“, sondern um die Verwirklichung eines Rechtes im Verfassungsrang. Und da muss man feststellen, dass die Verwirklichung dieses Anspruchs bei uns noch in den Kinderschuhen steckt. „Geht sowieso nicht; ist viel zu teuer!“ sagen diejenigen, die glauben, dass gesellschaftlicher Fortschritt vor allem darin besteht, dass jede/r - einzeln – seiner/ihrer Leistung entsprechend Geld verdiene und glücklich werde. Die durch Krankheit oder Behinderung Benachteiligten würden am besten in Einrichtungen versorgt, die ihren intellektuellen und körperlichen Fähigkeiten entsprächen.

Dr. Hans Wocken, Professor für Lernbehindertenpädagogik an der Universität Hamburg von 1980 - 2008, vertrat am 29. November 2010 im Telgter Bürgerhaus eine dezidiert andere Position. Er zitierte den jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber, der bereits 1962 als Ratschlag für Pädagogen formulierte: „Du betrittst den Schulraum zum ersten Mal; da siehst Du sie in den Bänken hocken; wahllos durcheinander. Und doch wirst Du auf jeden einzelnen von ihnen zugehen und willens sein, jedem nach seinen Möglichkeiten etwas beizubringen.“

Prof. Wocken ging auf die historischen Wurzeln der Sonderschulen ein, die anfangs einen emanzipa-torischen Anspruch hatten, aus heutiger Sicht aber zu einem Schulsystem der Segregation, der Trennung beitragen. Das Dorfschulmeisterlein um 1900 unterrichtete 60 – 80 Kinder in einem Schulraum gleichzeitig, musste sich anstrengen, den verschiedenen Jahrgängen Unterschiedliches beizubringen. Die zu Schwachen blieben außen vor: Sie wurden gar nicht unterrichtet, weil das allgemeine Schulsystem zu schlecht war. Insofern kann die Errichtung von Sonderschulen für die damalige Zeit als Fortschritt betrachtet werden, da in ihnen Kinder mit körperlichen Einschränkungen ( Taubstumme; Blinde; Kinder mit Kinderlähmung; Trisomie 21 - Kinder…), mit emotionalen sowie Verhaltens- und Lern- Defiziten ebenfalls beschult wurden.

Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts freilich sind weitere Faktoren untersucht worden, die eine Benach- teiligung von Kindern markieren: Z. B. der Zusammenhang zwischen elterlicher Berufstätigkeit und Schul- formen, die deren Kinder besuchen: Heute sind ca. fünf Prozent der Eltern von Gymnasialschüler/ innen arbeitslos; hingegen 35 % der Eltern von Förderschüler/innen. Die Förderschule ist damit die Schule des Prekariats, also derjenigen, die in finanziellen Verhältnissen leben, die ein Auskommen für die Familie nicht ermöglichen.

Der Artikel 24 der UN – Behindertenrechtskonvention bedeutet nach Prof. Wocken ein Verbot der Sonderschulpflicht. Damit hat sich Einiges verändert zur Anschauung Herbarts, der im 19. Jh. formulierte, dass die Verschiedenheit der Köpfe das größte Hindernis für die Erziehung bedeute.

Inklusion ist radikal. Professor Hans Wocken vergaß nicht, darauf hinzuweisen, dass in Deutschland 60 % der erwarteten Kinder mit Behinderung abgetrieben werden. Er benannte verschiedene Stadien des Umgangs mit behinderten Kindern.

  1. Exklusion: Diese Kinder bleiben zu Hause hinterm Ofen sitzen;

  2. Segregation: Kinder mit Behinderungen werden gefördert; für sie sind gesonderte Schulen

einzurichten;

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  1. Integration: Pädagogische Einrichtungen werden durchlässig; die Frage bleibt, ob alle Kinder als

integrationsfähig angesehen werden, auch die schwerst mehrfach behinderten.

  1. Inklusion: Die Frage, ob es Grenzen für die Integration gibt, stellt sich bei der Inklusion nicht

mehr: Unter deren Geltung passtsich Schule allen Kindern und Jugendlichen an.

In Deutschland werden derzeit 85 % der Kinder mit Behinderungen in Förderschulen untergebracht. In Italien wie auch Skandinavien ist das Verhältnis umgekehrt: ca. 15 % werden dort in Förderschulen unterrichtet, 85 % gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung. Inklusionsunterricht findet im Bundesland Bremen an Grundschulen für 50 % der Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf statt; in Nordrhein - Westfalen für 15 %. Es wird nach dem Motto verfahren: So viel Integration wie möglich, so viel Separation wie nötig.

In einer inklusiv arbeitenden Schule hat der/die Lehrer/in im Sinne Maria Montesssoris die Lernumgebung vorbereitet. Mit den vorbereiteten Materialien kann eine Vielfalt von Lernzielen erreicht werden. „Die Äpfel müssen für jedes Kind so hoch hängen, dass es auf Zehenspitzen stehend heran kommt.“

Noten und Jahrgangsziele fallen weg. Das klingt für deutsche Ohren unvorstellbar. Aber: In Finnland gibt es derzeit bis Ende der Jahrgangsstufe 9 keine Leistungsbewertung nach Noten!

Prof. Wocken ist davon überzeugt, dass für die Erziehung im Sinne der Inklusion nicht mehr Geld erforderlich ist, nur ein neuer Kopf. Wie in Italien und Skandinavien müssten sich alle Schulen auf eine Erklärung einlassen, im Sinne der Inklusion bilden und erziehen zu wollen: „Dazu braucht es auskömmliche und verlässliche Ressourcen. Sie müssen im Gesetz stehen und einklagbar sein! Die Schulen müssen etwas bekommen, nämlich Personal und Geld im Sinne eines Ressourcentransfers. Inklusion spart nicht. Aber sie kostet auch nicht extra! Lassen Sie uns das Zweitsystem Schule für Kinder mit Lern- Sprach- undVerhaltensschwierigkeiten schließen!“

Natürlich habe ein geistig behindertes Kind nach vier Jahren nicht den Grundschullehrstoff „drin“. Aber: In einem ‚Mehr - Pädagogen - System‘ gehe ein solches Kind nicht – wie weiland in einem neutestamentlichen Gleichnis ein Schaf von seiner Herde, dem der gute Hirte nachlief – verloren, sondern werde gemäß seinem individuellen Lernvermögen angesprochen. Zehn Prozent aller Grundschulkinder haben - so Wocken - Probleme in der Grundschule: sprachlich, beim Lernen oder im Verhalten. Von daher sollte ein Lehrer auf 100 Kinder bereit stehen, entsprechende Defizite, falls möglich, aufzuarbeiten. Das würde eine Abkehr von der personenbezogenen hin zur systemischen Ressourcen - Zuweisung bedeuten. Anders ausgedrückt: Pro Tag steht pro Unterrichtsstunde in jeder Klasse ein Sonderpädagoge zur Verfügung. Dies solle für 65 % der bisher an Förderschulen unterrichteten Kinder gelten, nämlich die mit Lern- Sprach- und Verhaltensdefiziten. Zu den anderen 35 % gehören die schwerst mehrfach Behinderten, Taubstumme, seelisch Kranke, für die Hans Wocken eine ganztägige Betreuung in Kleinstgruppen empfiehlt. Er vermutet, dass die o. g. Gruppen kaum an Gymnasien inklusiv unterrichtet werden, zumindest nicht auf absehbare Zeit.

Werner Kropp, Leiter derPestalozzi – Schule, Ennigerloh, stellte zu Beginn fest, dass das Förderschul - Wesen in Deutschland bislang nach einem ‚medizinischen Modell‘ funktioniert habe: Ein/e Sonderschullehrer/in stelle die Diagnose: ‚Förderbedarf‘, und daraufhin werde das Kind einer entsprechenden Einrichtung zugeweisen. Er erwähnte einige gesellschaftliche Veränderungen, die als Stationen des Aufbruchs aus dem Sonderschulwesen gesehen werden können: Gründung eines Vereins ‚Hilfe für behinderte Kinder‘ 1961; „Öffnung von Schule“ in den achtziger, Gemeinsamer Unterricht in den neunziger Jahren. Um 2000 geriet die Grundschule - ‚PISA‘ lässt grüßen - unter den Druck, so viele Kinder

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wie möglich auf das Gymnasium vorzubereiten. Da sehe man sich schnell einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, wenn man gemeinsamen Unterricht für Behinderte und nicht Behinderte fordere.

Der erste Versuch, die Schule für Lernbehinderte in Ennigerloh zu einem Kompetenzzentrum für sonderpädagogische Förderung zu machen, schlug fehl. Erst 2008 wurde die Genehmigung erteilt. Damit erfolgte ein Paradigmenwechsel, auch was die Zuständigkeit angeht. Bisher war Prävention als Anforderung im Grundschulalter im Bereich der Jugendhilfe angesiedelt. Beispiel. Mütter mit Erziehungsschwierigkeiten haben ein lernbehindertes Kind. Das Prinzip der sozialräumlichen Orientierung sorgt dafür, dass in einem Arbeitskreis mit insgesamt ca. 50 Personen Vertreter/innen des Gesundheits-, des Jugendamtes, von Beratungsstellen, Logopäden/innen. Im ‚Café Kinderwagen‘ leisten z. B. auch eine Hebamme sowie Erzieherinnen Beratungsdienste. Die Pestalozzi – Schule führt keine Förderschul – Aufnahmeverfahren mehr durch; 80 Lehrer - Wochenstunden werden derzeit an allgemein bildende Schulen gegeben. „Kann man mit 40 Schüler/innen noch einen Sonderschulbetrieb aufrecht erhalten?“ Werner Kropp antwortete, dass die Förderschule nicht als Kinderverschleppungsaktion dienen solle. Neun von zehn Eltern seien nicht erfreut, wenn Sonderschullehrer/innen Förderbedarf für ihr Kind feststellten. Bildung im Sinne von Inklusion werde für Lehrpersonen bedeuten, dass sie auf prozessorientierte Beratung für Kinder vorbereitet werden. Dann werde es keine Unterscheidung zwischen sonderpädagogischem und anderem Förderbedarf mehr geben.

Laut Bertelsmann – Studie gebe es 116 000 Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Nordrhein – Westfalen. In Kindertagesstätten würden immerhin bereits 69 % der Kinder mit Behinderungen inklusiv betreut und erzogen. In Grundschulen immerhin 26 % ; an Sekundarschulen freilich nur 8 %. Für eine konkrete Umsetzung des Rechtes auf Inklusion sei ein aktualisierter Schulentwicklungsplan für die Kommunen dringend erforderlich. Der müsse darüber Auskunft geben, wie viele Schüler/innen zwischen 2015 und 2020 Förderung erwarten. Die Förderfähigkeit an Grund – und Sekundarschulen müsse wachsen.

Karin Burtzlaff, Vorsitzende von „für-ein-ander“, Verein für Körper- und Mehrfachbehinderte im Kreis Warendorf, betonte, dass es nach wie vor kaum eine Lobby für Menschen mit Behinderungen gebe. Früher habe man die Kinder häufig von ihren Eltern getrennt, sie in stationäre Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen gebracht. In Beckum habe der Verein inzwischen ein Haus in Betrieb, das als Zentrum für Begegnung, Beratung, Therapie und Wohnen für Familien arbeite, die ein Kind mit Behinderung haben.

„Wie kann ein behindertes Kind in der heutigen Zeit noch passieren?“ Solche Sätze, so Karin Burtzlaff, solle sich niemand mehr anhören müssen! Die Erfahrungen von Eltern sind nach wie vor ernüchternd, das Vertrauen in den Sozialstaat werde regelmäßig auf eine harte Belastungsprobe gestellt. Hilfsmittel würden von den Krankenkassen abgelehnt; die Übernahme der Kosten müsse gleichsam erkämpft werden. Ihre Forderung daher: Die Krankenkassen müssten eine beratende Funktion einnehmen, auf die Eltern zugehen und sagen: „Das können wir Ihnen für Ihr Kind anbieten.“ Die Außenkontakte der Kinder müssten gefördert werden, z. B. durch barrierefreie Zugänge zu Geschäften, Cafés… Noch immer müssten schwerst mehrfach Behinderte – wie Hunde – draußen vor dem Geschäft warten.

Wie sehen sich Behinderte selbst? hat Karin Burtzlaff in einer Umfrage erkundet: „Ich möchte respektiert werden.“ „Niemand soll mich ansehen, als wäre ich dumm.“ „Ich möchte dabei sein können.“, - so die Antworten. Die Wohnungssuche ist nach wie vor ein Riesenproblem. Ambulant betreutes Wohnen solle ausgebaut werden. Die Kommunen sollten Investoren zu barrierefreiem Wohnungsbau ermuntern. Nur so könnten die Ängste der Eltern davor, dass ihr Kind nicht laufen, nicht allein essen, sich nicht verständlich machen, nicht allein zur Toilette gehen könne, genommen werden. Wenn Behinderte und nicht

 

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Behinderte sich gegenseitig ernst nähmen, gehörte es längst zu Jedermanns Erfahrung, dass heterogene Lerngruppen positiv für behinderte und nicht nachteilig für gute Schüler seien. Betroffene müssten zu Beteiligten gemacht werden.

In einer Landtagslesung 1993 hieß es: „Kinder mit Behinderungen können in die Regelschule gehen. Das war noch ein Stück weit entfernt von der Verwirklichung des Rechts auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Wünschenswert sind interfraktionelle Übereinkommen sowie ein runder Tisch vor Ort, die den § 8 der UN – Behindertenrechtskonvention mit Leben füllen.

Bernhard Drestomark

 

 

 

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